Abbiegen in das Links von gestern

Anlässlich des Jubiläumsjahres von Halle-Neustadt rahmten die Themen Gehen und Imagination die Lehrveranstaltung „Form Follows Movement/ Körper- und Raumkonzepte“ von Stella Geppert.

Anne Nemack, Farbe, 2014

Anne Nemack, Farbe, 2014
Bei einer Ortsbegehung wirkte die Tristesse der Betonbauten und der große Leerstand sehr eindringlich auf mich. Es schien, als würde das Leben diesen Ort allmählich verlassen. Ich dachte an einen Versuch der Wiederbelebung durch Farbe, so wie sie mich persönlich erhellt.
Ich betrachte mein Werk, es wirkt verloren, geht unter in einer Masse aus Beton; grau nimmt überhand. Und vielleicht erzeugt es doch ein kleinen Moment der Freude, wenn man es entdeckt?! Mit meiner Aktion stoße ich auch auf Widerstand, der mich berechtigter weise mit der Frage konfrontiert, wie subjektiv mein Empfinden ist. Gleichzeitig lässt sich die Assoziation mit einer Aussage aus der NS-Zeit kaum vermeiden. Damit wird meine Aussage zum Dogma, das dazu anregt die Antwort auf die Frage 'Rettet Farbe vor der Tristesse?' individuell zu erörtern.

Abbiegen in das Links von gestern[1] / Stella Geppert 

Anlässlich des Jubiläumsjahres von Halle-Neustadt rahmten die Themen Gehen und Imagination die Lehrveranstaltung „Körper- und Raumkonzepte“[2], die ich im Sommersemester 2014 mit einem Teil von Studierenden meiner Klasse durchführte.

Gehen und Imaginieren sind vorerst einmal zwei gegensätzliche Tätigkeiten. Sie werden jeweils mit unterschiedlichen Raumatmosphären gedanklich verknüpft. Wenn wir uns selbst gehend vorstellen, denken wir räumlich anders als während des Imaginierens. Beide Tätigkeiten sind äußerst aktiv und setzen unterschiedliche Gestaltungsprozesse frei.

Gehen ist gerichtet. Da, wo unsere Beine sind, sind wir auch in der Regel vor Ort und durchdringen den konkreten Raum haftend mit den Füssen auf dem Boden. Parks, Einkaufzentren, Arkaden, Boulevards, Umgebungstrassen und Strandpromenaden sind Stätten unterschiedlicher Gangarten. Feine Beobachtungen und kinetische Empfindungsgaben zeigen uns die Verbindung von Beingesten und den gebauten urbanen Landschaften auf. Körperhaltungen werden durch architektonische Setzungen motiviert. Gehbewegungen, ob allein oder in der Menge, geben und gaben eine Anleitung zur aktiven Mitgestaltung von Urbanität. Vom Flaneur bis zum Situationisten sind Gangformen Lesarten von und Impulsgeber für Veränderungen und Gestaltung von Urbanen und sozialen Räumen.

Imaginieren ist meist eine stille Handlung. Sie kann zeit- und richtungslos und ortsungebunden sein. Die Imagination folgt, wenn sie frei ist, weder einer logischen noch einer klaren räumlichen Orientierung. Sie ermöglicht es uns, Gesellschaften und Lebensformen in ungewöhnlicher Qualität vor unserem inneren Auge auszumalen. Sie ist der Realität sehr fern und nah zu gleich. Beim Imaginieren werden Bilder gedanklich gefasst und können von ihren Kontexten gelöst verarbeitet werden.

Die Lehrveranstaltung führte ich in kurzen Einführungsworkshops zusammen mit Martin Nachbar (Tänzer und Choreograph) und Alfonso Rituerto (Zauberer) ein. Nachbar sensibilisierte die Studierenden durch Aufmerksamkeitsstudien für alltägliche Gangarten und deren Gestik im Raum. „Nach Elizabeth Grosz ist die erste Geste der Kunst eine architektonische: Durch die Errichtung eines (Fuß)Bodens werden z. B. bestimmte Eigenschaften der Erde wie Schwerkraft und Abstoßung hervorgehoben, die u. a. zum Auftauchen des Tanzes führen.“[3] 

Alfonso Rituerto ließ unmögliche Welten in der Realität entstehen, um durch Aufdecken und Verhüllen die Kraft der magischen Atmosphäre entfalten zu können. Rituerto schreibt: „Die Magie liegt in einem Ort, in dem die Abwesenheit von Grenzen regiert. Sie stellt sich als unendlich dar. Die Unendlichkeit der Magie ist aber keine räumliche Unendlichkeit: Sie ist die Unendlichkeit als die Verweigerung des Begrenzten.“[4]

StudienarbeitenYommana Klüber führte eine lyrische Ortsbegehung in Betontauben durch, in dem sie rückwärts über das von allen Seiten einsehbare Parkdeck im Zentrum von Halle-Neustadt schritt. Ihr gesprochener Text beschreibt eine Phantasievorstellung vom Parkdeck als Ort der ursprünglichen Natur. Die Beiwohnenden der Performance kamen ihr langsam entgegen, während sie dem Raum zu entschwinden schien. Ihre Ansprache hallte bis in die oberen Stockwerke der umliegenden Hochhäuser.

Innerhalb des Parkhauses marschierte auch Sara Marienfeld während ihrer Aktion und stoppte kurz an den jeweiligen Parkplatzkojen. Dort sprach sie befehlstonartig die jeweilige Parkplatznummer aus. Als wolle sie das verschwundene „Autoregiment“ wachrufen, schallten die Zahlen in den auto- und menschenleeren Raum zurück. Die präzise Kameraeinstellung Parkhaus 104-747 zeigt ihre Person in den immer gleichen Etagen kleiner und größer werden.

In Hoffnungsträger projizieren Marie Neumann und Laura Stach auf die Fassade der mittleren Hochhausscheibe im werbeüblichen Großleinwandformat einen 30-minütigen Film über den Bau eines Kartenhauses, das immer wieder einzubrechen droht und als Sisyphosarbeit erscheint. Innerhalb der Projektion entsprechen sich die Spielkarten und die Plattengröße proportional und stellen auf eine humorvolle Weise die Analogie zu Aufbau und Zerfall her.

In der Arbeit Trampelpfade – Auf den Spuren Halle-Neustadts bestreute Kristina Kramer die von ihr entdeckten Schleichwege mit fremdartig wirkendem Pulver. Die intuitive „Gestaltung“ beschreibt sie wie folgt: „Das Geheimnisvolle der Trampelpfade liegt unter anderem darin, dass voneinander unabhängige BewohnerInnen zunächst individuelle, nicht vorgesehene Abkürzungen nehmen und so mit der Zeit durch kollektives Nachahmen Trampelpfade entstehen. Dem Zauberhaften liegt zugleich etwas Anonymes wie auch Vertrautes und Verbindendes zugrunde. Das farbige Pulver auf den Wegen macht eine einzelne Begehung sichtbar und erinnert daran, dass jeder Mensch eine Spur hinterlässt, die zunächst unsichtbar bleibt und nur mit der Zeit und der Vielzahl an Begehungen auf scheinbar magische Weise einen Trampelpfad entstehen lässt.“

Lea Bruns folgt einer Hausfassade und testet die Möglichkeit, diese körperlich zu begreifen. In Fassadenlauf oder 385 Meter unternimmt sie den Versuch, das längste Wohnhaus der DDR (‚Block 10‘) zu umfassen. Man sieht, wie sie ihren Körper an das für 2.500 Bewohner angelegte Gebäude anschmiegt. Konzeptionell als eine Umarmung angelegt, wird jedoch eine reptilienartige, körperuntypische Bewegungsformation sichtbar. Der Abrieb des Körpers ist an der überdimensionalen Masse hörbar. Das dabei erzeugte Geräusch steht im Kontrast zur privaten Geräuschkulisse der Wohnanlage.

Die Arbeit von Matthias Schützelt bezieht sich auch auf eine geschlossen angelegte Wohneinheit. Er implantiert eine in ihre Einzelteile zerstückelte Textpassage aus dem Buch Der geteilte Himmel von Christa Wolf in die inzwischen verwaisten Klingelschilder des vom Leerstand geprägten ehemaligen Block 167, Aufgang 2. Die Namen der Bewohner können als Teil dieser Prosa oder aber als Namen neu Hinzugezogener gelesen werden. Die zugleich poetische und minimalistische Arbeit eröffnet einen neuen Horizont des Möglichen zur Überwindung von Gegenwärtigem.

Mit einem anderen Verschlüsselungsprinzip agiert Sara Marienfeld entlang der Fußgängerpassage. In Geheimnisse setzt sie eigene Botschaften mittels einer von ihr erfundenen Geheimschrift den Blicken der Passanten aus. Die Schriftblöcke wirken wie ein Manifest oder ein Bekenntnis. Von allen Seiten einsehbar bleibt der Code jedoch verborgen und trotzt dem für Observation prädestinierten Stadtraum.

Eine weitere künstlerische Arbeit von Thomas Kirchner, Unten und Oben, reiht sich im Sinne einer Aufmerksamkeitsstudie in den Lebensalltag ein. Um den Anschein von Rechtmäßigkeit des Eindringens in ein fremdes Gebäude zu erzeugen, werden geladene Gäste des Spazierganges zwischen „unten auf der Straße“ und „oben auf dem Dach“ mit leuchtenden Warnwesten ausgestattet. Barrierefreies Gleiten zwischen privaten und öffentlichen Boden- und Luftraum relativiert die Dimension der Planstadt.

Das konkrete Agieren im Raum und die Vorstellung von Raum wechselten sich in der künstlerischen Auseinandersetzung ab. Das Spezifische von Halle-Neustadt wird an den Grenzen des Sichtbaren erlebbar gemacht. Über das Wechselspiel der „Vorstellung von“ und dem direkten „Vollzug in“ wird versucht, die Besonderheit der Stadt wie eine atmosphärisch aufgeladene Bestandsaufnahme zu fassen, so dass die Vorstellung von Halle-Neustadt eine Krümmung erfährt und das Morgen schon früher längs war.

Dieser Text ist erschienen in: „Wie wollen wir leben. 50 Jahre Halle-Neustadt“, Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, 2014

Stella Geppert
Seit 2009 Professorin für künstlerische Praxis im Studiengang Kunsterziehung / Kunstpädagogik an der BURG.

Seminar: Form Follows Movement/ Körper- und Raumkonzepte

Teilnehmende: Lea Bruns, Maite Darroman, Tabea Herbst, Thomas Kirchner, Yomanna Klüber, Kristina Kramer, Sara Marienfeld, Anne Nemack, Marie Neumann, Matthias Schützelt, Laura Stach

[1] Der Titel zu dem Text ist im Rahmen der Klassenausstellung „per faltung ins gebiet“ von Studierenden der Klasse erfunden.

[2] „Körper- und Raumkonzepte“ bildet einen Bereich der künstlerischen Praxis, den ich in den kunstpädagogischen Studiengängen der Burg Giebichenstein entwickelte und unterrichte. Er führt die Studierenden an architektonische, soziale und kommunikative Felder des öffentlichen Raumes heran und erprobt künstlerisches Arbeiten durch performatives Handeln.

[3] Aus dem Konzept von Martin Nachbar, Email vom 6.9.2014

[4] Aus dem Logbuch von Alfonso Rituerto vom 15.9.2014