Nina Hohberger

Diplom Bildende Künste bei Prof. Ulrich Reimkasten, Studienrichtung Malerei/Textile Künste, 2010

„Halle / Carl- Robert- Strasse“ 2009, Jacquard-Gewebe, digital gesteuert,

Baumwolle, Polyester, 108 cm x 80 cm

Die Diplomarbeit umschreibe ich mit dem Begriff Verortung, Kontext ist dabei der urbane Raum.

Bildmotive sind von mir fotografierte Plakatabrisse, die ich auf Streifzügen durch die Stadt entdecke. Sie sind Zeugnisse  meiner Spaziergänge durch die Stadt und gleichzeitig Zeugnisse des städtischen Lebens, dessen Teil ich bin. Als Produkt des öffentlichen Raumes, als urbane Erscheinung spiegeln die Plakatabrisse metaphorisch für mich die Vielschichtigkeit der urbanen Gesellschaft wieder, die zu einem wachsenden Anteil unsere lebensweltliche Realität darstellt. Diese urbane Realität ist komplex und global vernetzt.

Beschleuigung der Datenströme bis zur Echtzeit und die Beschleunigung der Transportmittel erlaubne es immer mehr Menschen, sich über immer gössere Entfernungen hinweg immer schneller miteinander zu verbinden. Das Mehr an Freiheit, das sich daraus ergibt, wird begleitet von einem Mehr an Desorientierung. Heterogene Inhalte drängen sich in einem Nebeneinander, Orte und Zeiträume werden ent-fernt. Tradierte soziale Lebensformen lösen sich auf, Normalbiografien werden zu Bastelbiografien, Kontinuität wird fragmentiert, Mobilität und Flexibilität werden zur Voraussetzung.

Die Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit des Plakatabrisses ist für mich ein Phänomen dieser Zeit, sein Collagecharakter entspricht der fragmentierten Zusammensetzung subjektiver Sinnzusammenhänge, der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, der räumlichen Verinselung und der Unverbindlichkeit. Aber in seiner zufälligen, unvorhersagbaren, komplexen Erscheinung liegt auch die Faszination. Wenn in spomtan entstandenen Formen die unteschiedlichen Schichten neue Bilder ergeben.

Die flüchtige Erscheinung des Plakatabrisses erfährt durch meine Beachtung und Transformation in ein Gewebe eine andere Bedeutsamkeit. Zum einen wird durch das Foto ein ephemerer Zustand fixiert und als Dokument festgehalten. Der originale Abriss in der stadträumlichen Realität verändert sich weiter während ich die dokumentarische Momentaufnahme in eine äusserst statische, auf Dauerhaftigkeit angelegte Form übersetze. Zum anderen ist das gewebte Resultat ein bis auf jedeneinzelnen Bindepunkt festgelegtes, vordefiniertes Gebilde.

In diesem künstlerischen Arbeitsprozess werden sukzessiv Einzelentscheidungen getroffen, die zunächst analysierend zerlegen, gliedern, ordnen um dann, im Ganzen, verbindend wirken zu können. Die binäre Kombination der Kett- und Schussfäden erzeugt Konkretheit und die zugrundeliegende orthogonale Struktur bildet ein Koordinatensystem, das im kontingent wirkenden Bild des Plakatbrisses Orientierung gibt. Die unterschiedlichen, verwendeten Bindungen schaffen regelhafte Verbindlichkeiten.

Symbolisch wird in einer Art Kartographie das gegebene Umfeld nachgezeichnet und bedeutet. Diese Auseinandersetzung stellt für mich einen Aneignungsprozess dar und kann als Umgang mit der mich umgebenden Komplexität gewertet werden.

Mit der Umsetzung als gewebtes Bild lege ich dem chaotischen Plakatabriss eine bildtextile Ordnung zugrunde. Denn vor der materiellen Umsetzung steht die Transformation des gesamten Bildes in ein Raster, in dem jedes Koordinatenfeld binär codiert ist. Aber die rasterförmige Struktur ist in dem materialisierten, gewebten Bild teilweise gar nicht mehr erkennbar.

Das Gewebe ist mehr als seine Konstruktion.

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