Bauhäusler und Möbelgestalter Erich Dieckmann wird mit großer Ausstellung in Halle und Berlin gewürdigt

Kunstgewerbemuseum und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin sowie Kunststiftung Sachsen-Anhalt und Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle kooperieren bei dieser Wiederentdeckung eines prägenden Designers und folgen seinen Spuren in der Gegenwart

Erich Dieckmann mit Schülerinnen und Schülern (v.l.n.r.: Bernhard von Brandenstein, Katharina Dieckmann, Erich Dieckmann, Hela Jöns) auf von ihm gestalteten Korbsesseln.
Um 1931
Abzug Foto: Archiv der Sammlung Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle

Erstmals seit über 30 Jahren wird dem Möbelgestalter, Bauhäusler und Burg-Lehrer Erich Dieckmann (1896–1944) wieder eine große Ausstellung gewidmet, die am Freitag, 11. Februar 2022, in Halle (Saale) eröffnet wird und ab Mai am Berliner Kulturforum zu sehen sein wird. Die Wiederentdeckung dieses prägenden Gestalters, der wie Marcel Breuer mit Formen und Materialien experimentierte und Typenmöbelprogramme nach streng geometrischen Formen entwickelte, ist eine gemeinschaftliche Idee des Kunstgewerbemuseums und der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt und der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Sowohl in Berlin als auch in Halle (Saale) hatte Dieckmann gewirkt.

Das Projekt wird maßgeblich durch das Land Sachsen-Anhalt gefördert. Die Ausstellungsarchitektur stammt vom Münchner Designer Stefan Diez, die Typographie von Erik Spiekermann. Die Ausstellung in der Burg Galerie im Volkspark wird von Burg-Studierenden gemeinsam mit Gastprofessor Konrad Lohöfener gestaltet.

Die Ausstellung mit dem Titel Stühle: Dieckmann! Der vergessene Bauhäusler Erich Dieckmann ist in Halle an zwei Orten zu sehen, und zwar in den Räumen der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt am Neuwerk 11 und in der Burg Galerie im Volkspark am Schleifweg 8a. Ausgestellt werden neben Möbeln, Grafiken, Entwürfen und Zeichnungen Dieckmanns aus den Beständen des Kunstgewerbemuseums und der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin zeitgenössische Arbeiten, die sich mit Dieckmanns gestalterischen Ansätzen beschäftigen.

Erich Dieckmann kam nach einem Architekturstudium in Danzig und einem Mal- und Zeichenstudium in Dresden 1921 an das Bauhaus nach Weimar, um dort eine Tischlerlehre zu absolvieren. Nachdem das Bauhaus 1925 nach Dessau weitergezogen war, blieb Dieckmann in der Nachfolgeeinrichtung, der Staatlichen Bauhochschule Weimar unter Otto Bartning, und wurde dort im selben Jahr Leiter der Tischlerwerkstatt. 1931 folgte er vielen ehemaligen Bauhäuslern wie Marguerite Friedlaender und Gerhard Marcks an die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein nach Halle (Saale). Dort leitete er von 1931 bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 die Tischlereiwerkstatt. Danach schlug er sich schwer krank mit Sachbearbeiter- und Referentenjobs durch, bis er im November 1944 mit nur 48 Jahren starb.

In der Ausstellung in der Kunststiftung ist sein erster Stuhl zu sehen. Es handelt sich um den Holzstuhl mit Binsengeflecht, den Dieckmann 1923 als Bauhausschüler entworfen hatte. Es folgen Typenmöbel, die er um 1930 für die Einrichtungsprogramme entwickelt hatte, und damit ganze Räume, wie Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer auszustatten. Die dazugehörigen Entwürfe und historische Fotos kommentieren die Konstruktion bzw. die Aufstellung und Wirkung der Möbel in den Raum. Doch Dieckmann bleibt nicht bei den stark geometrischen Entwürfen stehen, sondern zeigt in der Folge kurvilineare Modelle wie seine Bugholz-, Stahlrohr- und Korbmöbel beweisen. Dieckmann reizte hier mit seinem gestalterischen Ansatz die Möglichkeiten des Materials aus. Gerade die Stahlrohrstühle bzw. -sessel zeigen neue geschwungene, dynamische Formen. Seine reduzierten Korbmöbel wurden quasi zu Prototypen für Gartenmöbel und von anderen mehrfach wiederholt und kopiert. Am Schluss steht ein hellblauer Armstuhl mit deutlichen Gebrauchsspuren, der Dieckmann auf seinen Lebensweg von Weimar bis nach Berlin mitgenommen hat.

Zum Konzept der Ausstellung sagt die Direktorin des Kunstgewerbemuseums, Sabine Thümmler: „Wir wollen detailliert und anschaulich das Leben und Wirken dieses großen Gestalters anhand von Archivmaterial, Entwurfszeichnungen und den ausgeführten Möbeln nachvollziehbar machen. Dieckmann hielt zeitlebens als Lehrer und Buchautor mit seinen Design-Konzepten nicht hinter dem Berg. Seine Entwürfe in einen Dialog mit zeitgenössischen Positionen treten zu lassen, wird neue Perspektiven auf das Design der Zwischenkriegszeit eröffnen und neue Blicke auf gegenwärtige Fragen an das Design ermöglichen.“

Moritz Wullen, Direktor der Kunstbibliothek, ergänzt: „Unsere Sammlung von Zeichnungen Erich Dieckmanns ist einfach fantastisch. Linie für Linie lässt sich miterleben, wie Dieckmann die Dinge in seinem kreativen Kopf Gestalt gewinnen ließ, sie fortwährend veränderte und immer weiter perfektionierte. Mit Mitteln des BKM ist es uns in einem ersten Schritt gelungen, diesen Schatz digital für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nun endlich werden dank der Förderung des Landes Sachsen-Anhalt die schönsten Zeichnungen auch im Original zu sehen sein.“

Die Kunstbibliothek hat 1970 umfangreiche Teile des Nachlasses von Dieckmann erworben. Darunter sind mehr als 1.600 seiner Grafiken, Entwürfe und Zeichnungen, die inzwischen digitalisiert, dokumentiert und online zugänglich sind.

Die Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt nähert sich dem Werk Erich Dieckmanns mit einem eigenen Ausstellungsformat, in dem die Möbel von Erich Dieckmann reproduziert, neu inszeniert und – benutzt, ja „besetzt“ werden dürfen. Mehrere Möbelstücke wurden dort nach Original-Entwürfen nachgebaut. Die Künstlerin Margit Jäschke und der Designer Stephan Schulz haben dazu in einer Auftragsproduktion unter dem Titel Living like Dieckmann ein komplett benutzbares Raumkonzept entwickelt. Sie sind dabei auch der Frage nachgegangen, wie man im 21. Jahrhundert nachhaltig, kunstvoll und nützlich Alltagsgegenstände entwirft und realisiert. Beide haben sich entschieden, keinen klar definierten Funktionsraum zu entwerfen, sondern eine Art Wohnraum. In ihm soll die Wirkung von Möbeln für die Besucherinnen und Besucher erfahrbar sein, sie dürfen dort lesen und liegen und einfach erfühlen, was es heißt, in einem Stück Designgeschichte zu sitzen.

Stiftungsdirektorin Manon Bursian: „Erich Dieckmann hat zu seiner Zeit einen Massengeschmack geprägt. Dahinter steckte nicht nur Stil, sondern auch Haltung: Er sprach von ‚Lebenswärme und Wahrheit‘ und sagte: ‚Gönnen wir auch unseren modernen Wohnungen etwas Menschliches.‘ Aber was bedeutet das heute, wo jeder nicht nur schön und warm, sondern auch richtig und nachhaltig und gesund wohnen will? Margit Jäschke und Stephan Schulz fragen, was unsere Gestaltung heute bestimmt. Passt der Diskurs immer zum Design?“

In einem Ausstellungsfilm sprechen die Designer Rudolf Horn (Ost) und Stefan Diez (West) über ihre Sicht auf ihren berühmten Kollegen. Die Schauspielerin Bibiana Beglau liest aus Briefen und Dokumenten. Historische Akten verdeutlichen die Bedingungen von Dieckmanns Lebensweg und Entscheidungen nochmal von einer anderen Seite. 

In der Burg Galerie im Volkspark in Halle (Saale) ist aus Reflexionen, Entwürfen und Fotografien die gemeinsame Ausstellung SITZEN neu betrachtet. Entwerfen, beobachten, inszenieren an der BURG zu sehen. Studierende aus dem Industriedesign, dem Grundlagenkurs Fotografie im Kommunikationsdesign und der Kunstpädagogik der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle haben die Möbelentwürfe Dieckmanns, der von 1930 bis 1933 an der BURG lehrte, erkundet. Wie kann Dieckmanns Werk heute eingeordnet und interpretiert werden? Können die Ideen in die Zukunft transferiert, weiterentwickelt sowie neue Denkräume eröffnet werden? Und wie sehen Utopien für das 21. Jahrhundert aus? Historische Objekte, Skizzen sowie Möbel aus dem Archiv der Kunsthochschule sowie der Stadt Halle (Saale) dienten dabei als Grundlage für eine aktuelle Annäherung. In mehreren Semesterprojekten entwickelten die Burg-Studierenden Arbeiten, die sich aus heutiger Sicht mit dem Werk befassen.

Das Semesterprojekt Zwischen den Stühlen der Studienrichtung Industriedesign hat sich unter der Leitung von Gastprofessor Konrad Lohöfener mit der Möbelgestaltung Erich Dieckmanns auseinandergesetzt. Sechzehn Studierende entwickelten zeitgenössische Perspektiven und wagen den Blick in die Zukunft. Wie sahen die Visionen des Bauhauses und der Burg vor 100 Jahren aus? Wo stehen – sitzen – wir heute? Was sagt uns die Verheißung der Klassischen Moderne heute? Die Arbeiten der Studierenden behandeln inhaltlich eine ganze Bandbreite von ökologischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Fragestellungen. Wie können wir Material sparsam einsetzen? Können wir sortenreine und nachhaltige Verbundwerkstoffe erfinden? Wie sind die Ideen der Kreislaufwirtschaft in die Herstellung von Produkten integrierbar? Kann man traditionelle Handwerkstechniken und Rituale in heutige Entwürfe überführen? Wie verhandeln wir Sitzmöbel im öffentlichen Raum? Und auf welche Weise reagieren wir ganz aktuell auf die enge Verflechtung unserer Lebens- und Arbeitswelten durch die Veränderung der Corona-Pandemie – Stichwort Homeoffice? Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung sind vor allem die konstruktiven Details der Arbeiten bemerkenswert und verweisen auf den entwurfspraktischen Fokus im Arbeitsprozess. Zur Realisierung des Ausstellungsteils in der Burg Galerie im Volkspark wurde von Studierenden, begleitet durch Gastprofessor Konrad Lohöfener, ein Ausstellungsdesign für die entstandenen Möbel entwickelt und umgesetzt.

Die Betrachtung von Fotografien der Möbelentwürfe Erich Dieckmanns im Stadtarchiv Halle war Ausgangspunkt des Grundlagenkurses Fotografie von Prof. Stephanie Kiwitt und Felix Bielmeier. Der Fotograf Hans Finsler hatte 1931/32 im fotografischen Studio an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle einige der dort entstandenen Möbel Dieckmanns fotografiert. Anhand weiterer historischer und zeitgenössischer künstlerischer Fotografien, in denen Mobiliar als Objekt und Motiv des Sitzens eine Rolle spielten, entwickelten die Studierenden eigene Fragestellungen: Wie würden wir heute Stühle fotografieren? Wie inszenieren? Worauf sitzen wir und wie sitzen wir? Es entstanden Bildserien im Fotostudio, im privaten Wohnraum oder im öffentlichen Raum, die auch den Menschen und seine Spuren thematisieren, die dieser als improvisierendes und gestaltend agierendes Individuum im Alltag hinterlässt.

Studierende der Kunstpädagogik und der Kunstwissenschaften bei Prof. Dr. Sara Burkhardt entwickelten für die Ausstellung die Kartensammlung SITZEN – BURG Education BOX 02. Die Karten dienen als Impulse für Erkundungen und Handlungen im privaten wie im öffentlichen Raum. Sie regen spielerisch zum Beobachten, Zeichnen, Dokumentieren, Diskutieren und Austauschen an und setzen darauf, dass das Sitzen Denkprozesse in Bewegung bringen kann. Die Karten können allein oder in Gruppen genutzt werden.

Burg-Rektor Dieter Hofmann zum Konzept: „Für uns als Kunsthochschule sind bei der Kooperation mehrere Aspekte besonders spannend – zum einen die Auseinandersetzung Studierender mit der institutionseigenen Gestaltungsgeschichte, zum anderen aber auch die Möglichkeit Fragestellungen an die Gestaltung der 1920er und 1930er Jahre rund 100 Jahre später wieder aufzunehmen und um zeitgenössische Blickwinkel ungewöhnlich zu erweitern und auch zu befragen.“

Zur Ausstellung erscheint im Mitteldeutschen Verlag ein von Erik Spiekermann gestalteter Katalog mit Texten u.a. von Sabine Thümmler, Manon Bursian, Aya Soika, Katja Schneider-Stief, Laura Gieser, Ingolf Kern, Konrad Lohöfener und Benjamin Sander. Auf der Website www.burg-halle.de/zwischendenstuehlen sowie in einer Dokumentation in Buchform werden die für die Ausstellung entwickelten Möbelentwürfe von Burg-Studierenden auf den Spuren Erich Dieckmanns vorgestellt. Die Kartensammlung SITZEN – BURG Education Box 02 erscheint im Hochschulverlag der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.

Begleitet wird die Ausstellung in Halle von einem umfangreichen Rahmenprogramm, bei dem u.a. am 2. März die Gestalter Rudolf Horn, Stefan Diez und Erik Spiekermann über Dieckmanns Arbeiten sprechen werden. Zu einem Ausstellungsrundgang in der Burg Galerie im Volkspark laden am 16. Februar Industriedesign-Studierende ein und geben Einblicke, wie an der BURG heute Möbel entwickelt werden. Sitzen vermitteln heißt es am 9. März, wenn die Kartensammlung der BURG BOX präsentiert und erprobt wird. Am 23. März geht es dann um Dieckmanns Verhältnis zum Nationalsozialismus. Es diskutieren Prof. Dr. Sabine Thümmler (Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin), Prof. Dr. Aya Soika (Bard College Berlin), Wolfgang Thöner (Stiftung Bauhaus Dessau) und Dr. Katja Schneider-Stief (Kunsthistorikerin und Kuratorin).

 

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