In Deutschland stehen viele Pfarrhäuser, Gemeindezentren und Kirchen leer und warten auf eine neue Nutzung. Ein Großteil dieser Gebäude ist denkmalgeschützt, was die Frage aufwirft, wie man mit diesen wertvollen Räumen umgehen soll. Die Kirchengemeinden sind zunehmend offen für neue Ideen und Partnerschaften, sei es durch Zwischennutzungen oder die Entwicklung gemeinsamer Nutzungskonzepte. Der wachsende Leerstand von Kirchen stellt nicht nur für die Gemeinden, sondern auch für Städte und ihre Bewohner*innen eine große Herausforderung dar. Zeitgenössische Kunst und moderne Projekte eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, diese Orte neu zu beleben, ohne ihre kulturelle und historische Bedeutung zu verlieren. Durch bspw. Installationen, Performances oder Ausstellungen können leerstehende Kirchen nicht nur zu Plattformen für kreative Ausdrucksformen werden, sondern auch als Räume für Reflexion, Begegnung und Inspiration neu gedacht werden. Über das Potenzial zeitgenössischer Kunst im Kirchenraum muss an dieser Stelle nicht mehr verhandelt werden. Vielerorts nutzen Kirchengemeinden bereits die Chancen, die aktuelle ästhetische Interventionen in bestehende Sakralräume bieten. Doch die Qualität solcher Unternehmungen hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es genügt nicht, künstlerische Positionen einfach ohne eine fundierte ausstellungsdidaktische Konzeptionierung an die Wand zu bringen oder in die Kirche zu zwängen. Ebenso wenig zielführend ist es, zeitgenössische Kunst im Kirchenraum ausschließlich als Mittel zur religiösen Belehrung zu verwenden oder sie als Ersatz für spirituelle Erfahrungen zu verstehen.
Im vergangenen Sommersemester beschäftigten sich Studierende der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (Saale) mit mittelalterlichen Dorfkirchen im Kreis Müritz, Mecklenburg-Vorpommern. Vom 12. bis 19. Mai 2024 fanden wir uns in den Kirchen der Gemeinden Rittermannshagen und Gielow ein, besonders in den weniger genutzten Kirchen des Pfarrsprengels. In einem offenen Prozess entwickelten wir dort gemeinsam künstlerische Werke und Installationen und setzten auch gemeinschaftliche Aktionen mit den Anwohner*innen wie Vespern um. Die Kirchenräume fungierten dabei als offene Ateliers, die Raum für kreative Entfaltung und vielfältige Begegnungen boten. Bereits im Vorfeld wurden mögliche Szenarien erarbeitet, die dann individuell oder in kleinen Gruppen ausgestaltet und realisiert wurden. Es entstanden konkrete künstlerische Arbeiten, Klangräume und Interventionen, die den Kirchenraum in neuem Licht erscheinen ließen.
Die Ergebnisse dieses künstlerischen Prozesses wurden am Pfingstsamstag, 18. Mai 2024, im Rahmen einer Vernissage der Öffentlichkeit vorgestellt, eingebettet in das landesweite Projekt „KunstOffen“. Die Arbeiten, soweit sie materiell beständig, waren bis zum Tag des offenen Denkmals am 8. September 2024 zu sehen. Unter den realisierten Projekten war auch die Installation Sog Richtung Osten, die vom Projektteam bestehend aus Constantin Carstens, Martin Nielebock und mir, Berit Bührmann, im Kontext des Projektseminars „Nutzungspartnerschaften und Begegnungen“ entwickelt und umgesetzt wurde.
Um meine fachliche Weiterentwicklung voranzutreiben, habe ich mich im Rahmen meines praktischen Masterprojekts mit der Frage beschäftigt, wie kuratorische Begleitung in kollektiven Kunstvorhaben aussehen kann, die sowohl eine theoretische Entwicklungsphase als auch eine praktische Umsetzung beinhalten. Der Fokus lag dabei darauf, wie wir als Projektteam, bestehend aus Künstler*innen sowie kuratorischer und organisatorischer Begleitung, kollektiv zusammenarbeiten können. In Vorbereitung auf die Projektwoche habe ich mich intensiv mit internationalen künstlerischen Beispielen aus der Licht- und Klangkunst beschäftigt. Dabei rückte immer wieder die Frage in den Vordergrund, wie die Künstler*innen mit der jeweiligen kuratorischen Begleitung der Projekte zusammengearbeitet haben. Auch mit den beiden Künstlern habe ich mich über einige Beispiele installativer Werke ausgetauscht, bspw. über das Projekt "The Sacred and the Profane“ von James Turrell, dass in verschiedenen sakralen und öffentlichen Räumen durchgeführt wurde. Auch bei Arbeiten von Künstlern wie Bill Viola oder der Gruppe Sonic Acts wird oft eine enge Zusammenarbeit zwischen der kuratorischen Begleitung und der Künstler*innen beschrieben, um die Akustik und visuelle Gestaltung von Kirchenräumen zu nutzen. Diese Beispiele aus der Kunstszene flossen daher ebenfalls in unsere Entwicklung der eigenen künstlerischen Arbeiten vor Ort mit ein.
Constantin Carstens, der sowohl als Toningenieur tätig ist als auch in seiner künstlerischen Praxis intensiv mit Rauminstallationen arbeitet, hat sich darauf eingelassen, Klangelemente und Soundstücke in Beziehung zu räumlichen und akustischen Gegebenheiten zu entwickeln. Seine künstlerischen Arbeiten zeichnen sich durch die Untersuchung von Klang als räumlichem und physischem Element aus, das nicht nur in einem festgelegten Bereich präsent ist, sondern die Umgebung und die Interaktionen der Besucher*innen aktiv mitgestaltet. Martin Nielebock hat sich für dieses Projekt intensiv mit verschiedenen Künstlern wie James Turrell aber auch Installationen von Robert Irwin, Blinky Palermo und Gerhard Graubner auseinandergesetzt um später selbst im Kirchraum eine Fusion von Licht und Farben zu schaffen. Seine stetige Beschäftigung mit Überlagerungen, Auftrag und Abtrag von Schichten, die er bereits in seinen Malereien verwendet, ließen ihn auch bei diesem Projekt nicht los, sondern verhalfen zu einem neuen Blickwinkel und Kombination verschiedener künstlerischen Ausgangspunkte.
Da der Standort unseres Projekts, eine leerstehende Kirche, bereits vor der konzeptuellen Planung festgelegt wurde, konnten wir uns intensiv mit der spezifischen Struktur und Atmosphäre dieses Raumes auseinandersetzen. Das Ziel war es, neben der bereits erwähnten Frage der Begleitung des Projekts, das Zusammenspiel von Licht und Klang so zu gestalten, dass es eine multisensorische Erfahrung bietet, die über die physische Struktur der Kirche hinausgeht. Die Installation Sog Richtung Osten, die ich gemeinsam mit den beiden Künstlern als mein praktisches Masterprojekt entwickelt habe, bildet einen zentralen Bestandteil dieser Auseinandersetzung und wurde als integrativer Teil dieses interdisziplinären Prozesses realisiert.