Traumatic Lines

(22.8. - 18.9.2020). Gruppenausstellung in der Galerie Vincenz Sala mit Arbeiten von Alice Dittmar, Ursula Döbereiner, Abdessamad El Montassir, Myriam El Haïk, Stella Geppert, Jochem Hendricks, Natalia Jaime-Cortez, Käthe Kruse, Ulla Hahn, Marc Rossignol, Pierre Sportolaro, Saskia Wendland

Stella Geppert, „Talk with NB about Digital Networking“, from the series „Intimacy Talks“, 2014 – 2015, Berlin. Charcoal on paper, 150 x 150 cm, 00:40 min, code: T007 / Photo: T.Bruns

Über die Ausstellung:

Es ist die zweite Ausgabe einer Ausstellungstrilogie zum weiten – und erweiterten - Feld des Zeichnens. Die erste unter dem Titel „Verzeichnen" mit Zeichnungen und Installationen von Harriet Groß und Ursula Döbereiner schloss Anfang des Jahres. Mit dem Titel war auf den Freud'schen Versprecher angespielt, bei dem ungewollt sich in Erinnerung bringt, was im Unbewussten rumort. "Traumatic lines" befasst sich mit anderen Modi des Erinnerns und Abdessamad El Montassirs Videoarbeit "Achayef" bestellt das Feld. Die Arbeit befasst sich mit der traumatischen Erfahrung und generationsübergreifenden Vermittlung der historischen Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in seiner Heimatstadt Boujdour in der südmarokkanischen Sahara. Ein durchschnittener Baum, der mit seinen Jahresringen die vergangene Ereignisse aufzeichnet, tritt in einer prominenten Nebenrolle auf: als Metapher und nicht nur Metapher für physische, nonverbale Schichten des Erinnerns, die sich gegen eine Übertragung in die lineare Ordnung der Sprache und der geschriebenen und erzählten Geschichte sperren, aber zugleich eine andere Lesbarkeit eröffnen. Dabei werden diese physischen, potentiell traumatischen Erinnerungsebenen dominant, nicht zuletzt in der sprachlosen Transmission des vergangenen Leidens an nachfolgende Generationen.

"Traumatic lines" bezieht sich mit El Montassirs Arbeit auf diese Jahresringe als Inbegriff einer Form des Schreibens und Zeichnens, die vor allem unmittelbar physische Inschrift ist (nicht zuletzt im Sinne der Flusser'schen Überlegungen in ‚Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?' nur allerdings zugleich diesseits und jenseits des Schreibens). Die Ausstellung bietet eine Vernetzung von Arbeiten, die in teils höchst unterschiedlicher Weise Ebenen des Physischen ins Spiel bringen. Dabei gerät der zeichnende Stift und was an seine Stelle tritt zum Instrument, das die Linie eben nicht nur zeichnet, sondern auch ritzt, sticht, kratzt und schneidet; wird Teil eines Prozesses, der auf noch ganz andere Weisen auf den Körper ausgreift und ihn in den Mittelpunkt des künstlerischen Geschehens rückt. Ein Körper, dem die Zeichnung vor allem widerfährt, der ihr ausgesetzt ist, sie erleidet. Auch insofern ist von ‚traumatic lines' die Rede. Das meint allerdings nicht nur den Körper der Arbeit, den Bildträger (in Kafkas "Strafkolonie" ist es der Körper des Delinquenten). Der physische Übergriff, das Erleiden geschieht auch am anderen Ende des Stiftes. Die Hand, die zeichnet, ist beim Erlernen ihres Handwerks, beim mühsamen Einüben des Mit-der-Hand-Schreibens, durch vielfache Wiederholung der Buchstaben auch im Wortsinn physisch geformt – schwer gezeichnet ließe sich treffend sagen. Die der entwickelten Feinmotorik eigenen Automatismen stehen für eine Kontrolle, die weder dem Bewusstsein noch dem Unbewussten viel Raum lässt. Eine unmittelbar physische Autorität beherrscht (nicht nur) die Hand, die nicht mehr schreibt und sich schließlich im zeichnerischen Prozess durch Prothetik ersetzt findet (Hendricks eye-scanner, der übrigens für dieses Mal die Lektüre von Freuds Traumdeutung notiert hat, Gepperts headsets, Kruses Nähmaschine). Die Zeichnung wird erfahren, sie stößt zu, angeleitet durch eine ungefähre Choreografie (Geppert, Rossignol), ein Ritual (Wendlands groß geschlagener Kreis), durch wenige, einfach gesetzte Regeln (El Haïk, Hahn, Jaime-Cortez, Dittmar). Vor allem minimalistische Wiederholungen mitunter bis zur körperlichen Erschöpfung sind am Werk: Schraffuren zum großen und kleinen Format bei Döbereiner und Dittmar; Wendlands kleiner Kreis aus unzähligen minutiös gesetzten Punkten; El Haïks Verwebungen ebenso unzähliger stilisierter arabischer Schriftzeichen; und auch Hendricks großes Glasei mit den 10.258.743 nun allerdings gezählten Sandkörnern darin. Eine erschöpfende, selbstvergessene und selbsterinnernde Wiederholung, für die schließlich Sportolaros glühender Heizstab stehen mag. Dem sieht man durch ein eingelassenes Fenster zu, wie er im Innern eines Gefrierfachs orangeglühend das Eis abschmilzt, bis infolge der Erwärmung ein eingebauter Temperaturregler den Strom vom Heizstab auf die Wärmepumpe schaltet, die nun ihrerseits infolge der im Gefrierfach wieder fallenden Temperatur den Strom auf den erkalteten Stab zurückschaltet. Mit dem langsamen loop des Widerstreits zwischen Heizstab und Wärmepumpe ist schließlich auch auf den Betrachter ausgegriffen, der beim Blick durch die Scheibe auf das Drama im Kleinen mitfiebert und -friert.

Und kehrt nicht Benjamins Flaneur zurück und besteht darauf: „Wir können nur -, wofür wir nichts können." (übrigens nicht von Benjamin selbst, sondern in seiner ‚Wiederkehr des Flaneurs' zitiert aus Franz Hessels "Spazieren in Berlin"; was man in diesen sonnigen Tagen ausgiebig tun sollte)?

 

On the show:

It is the second edition in a trilogy of shows on the wide – and widening – field of drawing. The first one, under the title "Verzeichnen", with drawings and installations by Harriet Groß and Ursula Döbereiner closed early this year. The title alluded to the Freudian slip of the tongue (in German "Versprecher"), which unintentionally recalls something rumbling in the unconscious. "Traumatic lines" deals with other modes of recollection and Abdessamad El Montassir's video work "Achayef" tills the field. It deals with the traumatic experience and cross-generational transmission of the historic events in the second half of the last century surrounding his native city Boujdour in the South-Moroccan Sahara. A cut through tree with the annual rings recording the past appears in a prominent supporting role: as a metaphor, and not just a metaphor, for the physical, non-verbal layers of memory. They resist a transcription in the linear order of language and written history and at the same time allow for a different kind of legibility. These physical, potentially traumatic layers of recollection become dominant, not least in the speechless transmission of past sufferings across generations.

"Traumatic lines" draws on the annual rings in El Montassir's video as an epitome of a form of writing and drawing that is first and foremost physical inscription; not least in the sense discussed in Vlusser's essay 'Does Writing have a Future?'. The exhibition proposes a linking of the works on show focusing on the variety of ways they bring layers and levels of the physical into play. The pen that draws, and what in some of the works replaces that pen, becomes a tool that not just draws but also scratches, stitches, and cuts; that becomes part of a process engaging the body, pushing and pulling it into the center of the artistic events. A body that, probably more than anything else, incurs the drawing, is exposed to and befallen by it. Obviously not just the body of the work, the picture base (what in Kafka's "Strafkolonie" is the body of the delinquent suffering that horrific punishment of an inscription by some form of enormous type writer cutting into the flesh). The physical assault is also incurred at the other end of the pen. The hand that draws has been physically shaped by the backbreaking repetition of letters, by this physical conditioning necessary to learn the craft of writing. The automatisms in the developed fine motor skills of that trained hand imply forms of control where in many respects the conscious and even the unconscious have not much of a say anymore. Some immediate physical authority is in command, and not just of that trained hand that doesn't write anymore, that is even in some of the works replaced by prostheses (Hendrick's eye-scanner, by the way this time recording the reading of the first page of Freud's Traumdeutung, Geppert's headsets, Kruse's sewing machine). The drawing happens, is incurred, informed by some choreography (Geppert, Rossignol), or a ritual (Wendland's big circle, Hahn), or just a set of simple rules (Dittmar, Döbereiner, El Haïk, Jaime-Cortez, Wendland). In particular minimalist repetition by times to the point of physical exhaustion is at work: Hatching for large and small formats in Döbereiner's and Dittmar's work; Wendland's small circle of countless, meticulously set points; El Haik's interweaving of equally countless stylized Arabic characters; and also Hendrick's egg-formed glass bowl with the literally counted (!) 10,258,743 grains of sand in it. An exhausting, self-forgotten and self-remembering repetition, for which in some way Sportolaro's glowing heating rod may stand. You can watch it through a recessed window, orange-glowing in a freezer compartment, melting the ice until the built-in temperature controller switches the current from the rod to the freezer's heat pump; which in turn, due to the falling temperature in the freezer compartment, switches the current back to the heating rod; and so on. A slow loop drawing the viewer to engage and not just watch but literally sense the never-ending small-scale drama of that fight between the heating rod and the freezer's heat pump.

And is it not Benjamin's flaneur returning and insisting: „Wir können nur -, wofür wir nichts können. " ("We only can-, what we cannot do anything about." by the way not by Benjamin himself, but quoted in 'Die Wiederkehr des Flaneurs' from Franz Hessel's "Strolling in Berlin"; something one should do extensively these sunny days)?

 

Galerie Vincenz Sala
Sigmaringer Str. 23
10713 Berlin

22.8. - 18.9.2020

opening hours:
Wed - Fri
3 to 7 pm (during shows)