Lehrangebot

Spekulieren und Fabulieren – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anders erzählen

Spekulation ist ein zentrales Moment des Designs: Gestaltung heißt immer auch, sich Zukünfte vorzustellen. Dazu gehört häufig die Imagination neuer Formen, zukünftiger Nutzer:innen und sich verändernder Nutzungsweisen. Über Spekulationen kann Design aber auch intervenieren, den Status Quo stören, in menschliches Verhalten eingreifen und hierfür geeignete Mittel entwickeln. Kurzum: Über Design können Zukünfte gestaltet und zu einem gewissen Grad hervorgebracht werden (vgl. Yelavich und Adams 2014), wobei „Zukunft“ in diesem Zusammenhang nicht linear zu denken ist, sondern als Ensemble möglicher Szenarien, eingebettet in Narrative, Objekte und Praktiken des Alltags (vgl. Kjaersgaard et al. 2016). In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich das Speculative Design als eine eigene Richtung etabliert (vgl. Dunne/Raby 2013). Angesichts multipler Krisen versteht es sich nicht nur als kritische Reflexion von dominanten Technik- und Fortschrittsnarrativen, sondern auch als Versuch, wünschenswerte Alternativen zu entwerfen. Das spekulative Design hat daher immer auch einen normativen Anspruch: Es steht dem traditionellen Design kritisch gegenüber, will vor den negativen Auswirkungen des menschlichen Handelns warnen und die Welt im besten Falle positiv beeinflussen.

Doch das Spekulative beschränkt sich nicht nur auf die Designpraxis. In feministischen Theorien – etwa bei Donna Haraway oder Ursula Le Guin – ist Spekulieren eine Methode, um hegemoniale Narrative zu hinterfragen. Meist ist das feministische Spekulieren dabei nicht auf die Zukunft gerichtet; häufiger handelt es sich um eine Re-Narrativierung der Geschichte, um die Vergangenheit und Gegenwart neu zu erzählen (vgl. Angerer/Gramlich 2020). Dabei geht es mitunter darum, auch die hegemoniale Geschichtsschreibung als spezifische Form des Storytellings zu entlarven, um zu zeigen, dass andere Narrative möglich sind, die ganz neue Möglichkeitsräume aufspannen. Ein Schlüsseltext stammt von Ursula Le Guin. In ihrem Essay „Die Tragetaschentheorie der Fiktion“ setzt sie der Ursprungsgeschichte der Menschheit, deren zentrale Figur der kriegerische, jagende und männliche Held ist, eine andere Geschichte entgegen und entwickelt so eine alternative Technikgeschichte. Die Tragetasche wird zum Gegenmodell zu Faustkeil, Pfeil und Schwert und steht zugleich für eine andere Art der Erzählung, die ohne strahlenden Helden auskommen muss und nicht in der Form einer teleologischen Erfolgsgeschichte daherkommt. 

Postkoloniale Ansätze knüpfen daran an und haben das Spekulative und die kritische Fabulation als Methoden entscheidend weiterentwickelt. So greifen etwa afrofuturistische Erzählungen auf Science-Fiction-Ästhetiken zurück, um koloniale Narrative zu dekonstruieren und Zukunftsbilder zu entwerfen, die jenseits eurozentrischer Fortschrittsmodelle liegen. Spekulieren und Fabulieren dient in diesem Kontext auch dazu, eine Geschichte der Sklaverei zu erzählen, die Gewalterfahrungen und Traumata explizit macht, anstatt sie auszuklammern oder herunterzuspielen. Autor:innen wie Saidya Harman zeigen, dass Spekulieren und Fabulieren nicht nur Techniken des „Noch-Nicht“ sind, sondern auch Methoden, verdrängte oder bewusst verschwiegene Vergangenheiten neu zu erzählen, der Auslassung Schwarzer Subjekte in einer von weißen geschriebenen Geschichte etwas entgegenzusetzen und „die Gewalt des Archivs zur Sprache zu bringen“ (Hartman 2022).

Spekulative Ansätze erweitern die Spielräume des Designs und der Theorie: Sie öffnen das Feld für Stimmen, Geschichten und Zukunftsentwürfe, die bisher marginalisiert oder gänzlich ausgeschlossen wurden, und bieten Ansätze, dominante Erzählungen kritisch zu hinterfragen und zu transformieren.

Literatur zur Einführung und Einstimmung

Angerer, Marie-Luise; Gramlich, Naomie (Hg.) (2020): Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Dunne, Anthony; Raby, Fiona (2013): Speculative everything. Design, fiction, and social dreaming. Cambridge Massachusetts, London: The MIT Press.

Hartman, Saidiya V. (2022): Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint). Erste Auflage. Berlin: August Verlag (Kleine Edition, 39).

Yelavich, Susan; Adams, Barbara (Hg.) (2022): Design as future-making. reprinted. London, New York: Bloomsbury Visual Arts.