Am 21. Januar 2025, hielt Burg-Professorin für Kunstphilosophie und Kulturtheorie, Prof. Dr. Marita Tatari, ihre Antrittsvorlesung im Rahmen des Four Fixe:
Antrittsvorlesung von Prof. Marita Tatari: Die Lücke der Zeit – Kunst unter disruptiven Bedingungen
Guten Abend und herzlich willkommen.
Mein Vortrag ist als „Vorstellungsvortrag“ angekündigt. Ich möchte hier allerdings weniger meine Forschung präsentieren, sondern mehr die Weise vorstellen, wie ich die Philosophie – in meinem Fall Kunstphilosophie und Kulturtheorie – in der Kunsthochschule verstehe.
Ähnlich wie die Kunst, sehe ich die Philosophie als eine auf die Gegenwart antwortende Praxis. Eine reflexive Praxis, die sich in der Welt für die Welt verantwortet.
Ich möchte im Folgenden einige Kerngedanken mit Ihnen teilen, worum es mir bei dieser antwortenden Praxis geht, und welche Haltung sich daraus bezüglich der Gegenwart, aber auch gegenüber dem Geschichtsverständnis ergibt.
Das Gemeinsame
Das „Schöne“, das „Wahre“, das „Gute“ bezeichneten in der westlichen philosophischen Tradition das Gemeinsame: das, was allen gemeinsam ist, allen Menschen und allem, was ist, als einem an und für sich Wertvollen.
Das Schöne bezeichnete das Gemeinsame in dem Gebiet des Sinnlichen, das Wahre in dem des Begriffs, das Gute in dem Bereich der Handlung.
Sofern das Gemeinsame aber als etwas Gegebenes gilt, als etwas Starres oder Geronnenes, ist es kein Gemeinsames – kein allen Gemeinsames, sondern bildet den Bodensatz einer Gemeinschaft, die sich auslebt, während sie Fremde ausschließt. Totalitär ist in dieser Hinsicht eine Gemeinschaft, die auf etwas Gegebenem gründet, auf einem Ursprungmythos oder einem Ideologem, historisch etwa als Blut und Boden oder im Rassegedanken ablesbar.
Dagegen steht der Begriff der „Demokratie“. Anders als im antiken Athen, wo die Demokratie nur für die freien Männer galt, fördert und verspricht die moderne Demokratie ihrem Begriff nach, die Freiheit jedes Menschen in der Gleichheit aller Menschen. „Demos“ heißt auf griechisch Volk. Das Volk ist aber kein Prinzip. Dementsprechend muss sich die Demokratie der Abwesenheit einer Grundlage aussetzen. Sie muss also (ihrem Selbstverständnis nach) unbegründet bleiben, sonst würde sie den vorgebrachten Grund in Beherrschung und Unterdrückung verdrehen. Deswegen kann das Recht, auf das die demokratische Institution verweist, „in Wahrheit nur in einem stets aktiven und erneuerten Verhältnis zu ihrem eigenen Mangel an Gründung leben“.[1]
Die Demokratie zeichnet sich demnach durch die Herausforderung aus, die Öffnung im Herzen des Gemeinsamen offen zu halten: offen für Andersartige, für Differenz, offen zu Neuverhandlungen, Revisionen, Transformationen. Es geht in ihr darum, diese Öffnung gemeinsam zu tragen – als ein nicht begründetes Gemeinsames.
Ihrem Selbstverständnis nach unbegründet ist auch die Autonomie, die viele als das Hauptanliegen der westlichen Zivilisation beschreiben: ein Selbst, das sich selbst nur insofern bestimmt, dass es auf sich selbst reflexiv bezieht und deshalb aber zugleich sich selbst als ein anderes erfährt; sich zu einem anderen hin in sich selbst öffnet.
Nun zeugt die Geschichte des Westens von der Schwierigkeit des demokratischen Prozesses und den Widersprüchen des Autonomieanliegens, was sich heute zu einer multidimensionalen Krise verschärft hat. Die Schattenseite unserer Zivilisation ist spätestens seit dem 20. Jahrhundert deutlich sichtbar geworden.
So sehr das Abendland, wie es früher hieß, die Öffnung zum anderen in sich selbst anstrebte, hat es zugleich nicht aufgehört, den Anderen auszumerzen, auszulöschen, zu vernichten: in den Kolonien, in den Vernichtungslagern, in den Gulags, und, planetarisch erweitert, in der Naturzerstörung und der Zerstörung von Lebensraum – eine unaufhaltsame Geschichte der Beherrschung bis hin zum endlosen Konsum des Anderen in der technoökonomischen Produktion des Spätkapitalismus.
Trotz all des Guten, das das Streben nach Autonomie zeitigte, wie etwa die Forderung nach Gleichheit, hat dieses Streben zugleich nicht aufgehört, den Anderen und damit gleichzeitig sich selbst zu zerstören.
Die Philosophie versuchte und versucht weiter diese Entwicklung und damit auch sich selbst kritisch zu reflektieren, ohne den Anspruch auf ein unbegründetes Gemeinsames aufzugeben.
Philosophie mit den Mitteln des Begriffs, und Kunst mit den Mitteln des Sinnlichen, beide sind der Versuch, die Öffnung des Gemeinsamen je auf ihre Weise zu artikulieren, zu bejahen und zu teilen und damit zwischen uns offen zu halten.
Dieses Selbstverständnis ist allerdings ins Wanken geraten, und es stellen sich Fragen: Ist das Gemeinsame, wie es der Westen seit der Aufklärung dachte, die Selbstverwirklichung der Menschheit als Freiheit? Ist die Geschichte der Fortschritt dieser Selbstverwirklichung? Gibt es einen universalen Horizont für den Fortschritt?
Die Moderne und selbst die Postmoderne (trotz ihrer Kritik an der Moderne), sahen beide in dem Bruch mit der Tradition die Bedingung für die Emanzipation. Was die heutige Zeit von anderen unterscheidet, ist, dass dieses Schema grundsätzlich in Frage steht: Wir stecken zwischen Vergangenheit und Zukunft fest, ohne auf das Fortschrittsnarrativ der Moderne zugreifen zu können.
Kunst macht sichtbar
Nun hat sich die Kunst seit je her der Welt gegenüber verantwortet. Sie handelte mit den Mitteln, dem Sensorium, dem Material oder der Gefühlslage ihrer Zeit und öffnete dahingehend stets den Verhandlungsraum dessen, was ich anfangs als unbegründetes Gemeinsames bezeichnet habe. Damit meine ich nicht den in den Künsten jeweils dargestellten Inhalt, sondern das Moment, das ein Material als lebendige Entfaltung oder als lebendigen Prozess teilbar macht.
Dies verdeutlicht etwa das berühmte Zitat von Paul Klee. Er schreibt: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“[2].
Nicht bloß: „sie zeigt etwas, das vorher nicht sichtbar war“, sondern vielmehr „sie macht sichtbar“ – intransitiv: sie macht das Moment der Öffnung der Sicht – das heißt hier des Spürens, der Wahrnehmung – teilbar.
Ähnlich hat es bereits Immanuel Kant hinsichtlich des Schönen formuliert. Alle Kräfte des Erkennens sind an der Wahrnehmung des Schönen beteiligt, aber es kommt nicht auf Erkenntnisse an. Der Gegenstand der Wahrnehmung wird nicht auf bestimmte, einzelne Merkmale festgelegt. Ohne Reduktion auf dieses oder jenes Merkmal, wird der schöne Gegenstand in der Gegenwart seines Erscheinens wahrgenommen.
[1] Jean-Luc Nancy, Wahrheit der Demokratie, Wien 2009, S. 85.
[2]Paul Klee, Schriften, Rezensionen und Aufsätze. Hrsg. Christian Geelhaar, DuMont Buchverlag, Köln, 1976, S. 118.
Wir verweilen bei der Betrachtung des Schönen, weil es sich selbst stärkt: ein lebendiges Entspringen, nichts Bestimmtes, Identifiziertes, sondern ein prozessuales Erscheinen, eine Öffnung. Eine Entfaltung, die deshalb lebendig und nicht fix und geronnen ist, weil sie das Moment, woraus sie entspringt, teilt: wie etwa in dieser Zeichnung von Bruce Marden von 1992 die Linien, die anstatt für etwas zu stehen, einen Raum aufteilen.
Kant sieht diese Öffnung als Öffnung des Raums von Möglichkeiten des Erkennens und des Handelns; der Raum, der immer vorausgesetzt ist, wenn wir dieses oder jenes erkennen oder tun. Diesen in unserer Erkenntnis und Handlung vorausgesetzten Raum der Möglichkeiten öffnet uns die Kunst.[3]
In der ästhetischen Betrachtung sind wir, sagt Kant, frei von jeder Bestimmung, von jeder fixierten Identifizierung. Damit sind wir aber zugleich frei für die Bestimmbarkeit unserer selbst und der Welt. Das, was Kant eher im betrachtenden Subjekt verortet, in den Erkenntniskräften jedes Subjekts, was aber andere nach Kant im Realen verorten, ist, was ich „unbegründetes Gemeinsames“ nenne: es ist die Öffnung, die nach Paul Klee sichtbar bzw. hörbar, berührbar, erfahrbar macht.
Auf der anderen Seite des Fensters
Vor dem Zeitalter des Subjekts, war die Öffnung, die sichtbar macht, Gott. Von dieser Öffnung her, erschien die Welt als geordnet, eine gottgegebene Ordnung. Die Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance entdeckte die mathematischen Gesetze dieser Ordnung: Die perspektivischen Abstände, die das Sichtbare in der Welt zu einer dispositio organisierten, drückten in der Welt eine göttliche Ordnung aus.
[3] Kant spricht vom Schönen, was bei ihm vor allem das Naturschöne heißt. Ich übertrage es hier auf die Kunst. Vgl. Martin Seel,