Mitten in Halles Innenstadt, in der “Kleine Klausstraße 16”, befindet sich ein Gebäude, in dem in der DDR-Zeit über drei Jahrzehnte Mädchen und Frauen ab 12 Jahren als auch sehr junge Erwachsene bis 21 Jahre teilweise über Monate eingesperrt wurden. Hier waren sie täglichen, als Zwangsuntersuchungen getarnten, schweren geschlechtsspezifisch-sexualisierten körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzt.
Der vorgeschobene Grund für die Zwangseinweisungen und Misshandlungen in die geschlossene “Venerologische Station” in der Poliklinik Mitte waren Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten (die bei einer Mehrheit der Opfer nachweislich nicht vorlagen). Tatsächlich ging es jedoch eher darum, unliebsame Mädchen und Frauen – auch Herumtreiberinnen gennant – gewaltvoll systemtreu zu disziplinieren.
Nachdem dieser Ort lange Zeit kaum beachtet wurde und es kaum eine adäquate Aufarbeitung gab, hat es in den letzten Jahren mehrere tiefgreifende Untersuchungen und diverse Beiträge zur Geschichte dieses Ortes gegeben. Darunter wissenschaftliche Studien1, ein Podcast2 sowie mehrere Artikel3 in Zeitungen und Magazinen. Auch haben die Behörde des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie Zeit-Geschichte(n), der Verein für erlebte Geschichte e.V. in Halle begonnen, sich systematisch der Aufarbeitung zu widmen, haben Archivmaterial und Quellen zusammengetragen und vor allem Aussagen von Betroffenen gesammelt.
Dabei blieb ein Problem nahezu unbeachtet: es gibt noch immer keine respektvolle Bezeichnung für diesen Ort der Gewalt. Die designtheoretische Kompaktwoche zielt daher darauf ab, eine Sprache bzw. einen adäquaten Namen für die Kleine Klausstraße 16 zu finden, der die Opfer weder weiter stigmatisiert und beschämt, noch die Gewalt, die sie erfahren haben, marginalisiert. Gegenwärtig wird nämlich - insbesondere in der medialen Berichterstattung - oft eine zynisch-gewaltvolle, alltagssprachliche Bezeichnung für den Ort gewählt, die eine sexuelle Infektion der zwangseingewiesenen Kinder und Frauen suggeriert. Oder es wird verharmlosend von der “Venerologischen Station” gesprochen, in der “Untersuchungen durchgeführt wurden”, was die massive Gewalt, welche die Opfer erfahren haben, als medizinische Maßnahmen verschleiert.
Um Vorschläge für eine Umbenennung entwickeln zu können, soll im Laufe der Kompaktwoche in Kleingruppen eine fundierte Auseinandersetzung mit der Gestaltung dieses Ortes, der Abläufe in der sogenannten Station sowie ihrer Funktion stattfinden. Aber auch die Rezeption des Ortes, seiner Geschichte und anderer Orte, an den Frauen Gewalt ausgesetzt waren sollen betrachtet werden. Die übergeordnete Frage bei dieser Auseinandersetzung wird sein: wie können wir uns designwissenschaftlich über gewaltvolle, diskriminierende oder stigmatisierende Orte so verständigen, dass wir das Leid der Opfer weder leugnen noch sie damit stigmatisieren? Gibt es eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit diesem Ort, die vielleicht sogar bestärkend für die Opfer der Gewalt ist?
Das Seminar ist Teil einer Lehrkooperation zwischen Kommunikationsdesigns (Anna Unterstab, Informationsdesign) und Design Studies (Mara Recklies, Designtheorie) der Burg Giebichenstein und Zeit-Geschichte(n), dem Verein für erlebte Geschichte e.V. aus Halle.
Das Ziel der Kompaktwoche ist daher eine seminarinterne Präsentation der Namensvorschläge am letzten Tag der Woche, die durch das von Anna Unterstab geleitete Praxisprojekt im Informationsdesign im Sommersemester 2026 aufgegriffen werden. Die designwissenschaftliche Kompaktwoche steht Studierenden aller Fachrichtungen offen.
Dieses Seminar steht ausdrücklich Studierenden aller Geschlechter offen, schließlich ist das Thema nicht nur für FLINTA*-Personen relevant. Dennoch erfordert die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen große Sensibilität und Rücksicht, auf die während der Kompaktwoche viel Wert gelegt wird. So wird ein Großteil der Forschungsarbeit während der Kompaktwoche in Gruppenarbeit durchgeführt, bei der es mindestens eine Gruppe geben wird, die ausschließlich FLINTA*-Studierenden zugänglich ist.
1) Schochow, Maximilan/ Steger, Florian: Disziplinierung durch Medizin: Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982, Studienreihe der Landesbeauftragten, Mitteldeutscher Verlag 2014 als auch Schochow, Maximilian: Zwischen Erziehung, Heilung und Zwang: Geschlossene Venerologische Einrichtungen in der SBZ/DDR, (Studienreihe der Landesbeauftragten), Mitteldeutscher Verlag 2019.
2) Z.B. der Podcast: “Diagnose: Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg” des MDR: https://www.ardaudiothek.de/sendung/diagnose-unangepasst-der-albtraum-tripperburg/urn:ard:show:b67ffae8e8a87d0d/ (29.06.2025)
3) “Disziplinierung in der ‘Tripperburg’” (FAZ – 14.09.2014).
“Vom Albtraum der ‘Tripperburg’ noch heute traumatisiert” (WELT - 31.12.2016).
“Tripperburg in Halle: Frauen zu DDR-Zeiten eingesperrt und gequält” (Mitteldeutsche Zeitung – 23.02.2017).
“Für mich war es jeden Tag eine Vergewaltigung” (kma – 24.02.2017).
“Eingesperrt, gequält, erniedrigt – wie die DDR Frauen gefügig machte” (Süddeutsche Zeitung – 03.04.2017).
“Zur Strafe in die ‘Tripperburg’” (ZEIT - 02.07.2017, Bezahlschranke)
“Leid und Unrecht in der ‘Tripperburg’” (Ärztezeitung – 24.01.2018).
“Die Tripperburgen der DDR: ein vergessener Skandal?” (AKTE – 14.11.2019).
“Ich dachte, ich muss dort sterben” (ZEIT online – 08.07.2023).