Ein Jahrhundert nach seiner Entstehung in Europa bleibt der Surrealismus eine lebendige und transgressive Kraft. Dieses Seminar schlägt eine kritische Neubetrachtung der Bewegung vor und erweitert die Betrachtung über geografische und kulturelle Grenzen. Wir untersuchen künstlerische Praktiken am Rande der kanonischen Kunstgeschichte – manchmal nicht explizit als surrealistisch bezeichnet, aber zutiefst verbunden mit ihrem befreienden Geist.
Entstanden in Paris im Gefolge des Ersten Weltkriegs, erhob sich der Surrealismus gegen den Rationalismus und wurde zum Vehikel rebellischen und emanzipatorischen Denkens. Seine kreativen Strategien – automatisches Schreiben, Collage, zielloses Umherschweifen, Psychogeographie – zielten darauf ab, die Kontrolle über die Körper zu durchbrechen. Der Surrealismus war eine transformative Denkströmung in Kunst, Literatur und Musik, mit Nachhall in der Politik.
Das Seminar beginnt mit André Bretons Surrealistischem Manifest, um sich dann surrealistischen Experimenten in der DDR, Afrika und Lateinamerika zuzuwenden. Das Werk der martinikischen Schriftstellerin Suzanne Césaire (1915–1966) zeigt zum Beispiel, wie Surrealismus eine Waffe in den antikolonialen Befreiungskämpfen in der Karibik war.
Ebenfalls betrachtet wird das Wechselspiel zwischen Surrealismus und subversiver Psychiatrie (wie bei François Tosquelles, Fernand Deligny und Nise da Silveira). Weder die Romantisierung des „Wahnsinns“ noch sein Ausschluss aus der Kunst interessieren uns – stattdessen folgen wir der Provokation des Kritikers Mário Pedrosa (1900–1981): Die sogenannten „Verrückten“ sehen die Welt „gleichzeitig von innen und von außen“.
Indem wir den Surrealismus von seinem eurozentrischen Kern lösen, wollen wir sein revolutionäres Potenzial reaktivieren – um mögliche und unmögliche Zukünfte zu erfinden.
Literaturauswahl:
Breton, André. Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1968.
Césaire, Suzanne. The Great Camouflage: Writings of Dissent (1941–1945), hg. von Daniel Maximin, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 2012.
Berendse, Gerrit-Jan. Surrealismus in der DDR: Kampfansage an den sozialistischen Realismus in der ostdeutschen Literatur 1945-1990, Göttingen: Wallstein Verlag, 2022.
Alemani, Cecilia (ed). Biennale Arte 2022: The Milk of Dreams. La biennale di Venezia / Silvana Editoriale, 2022.
MIGUEL, Marlon and VOGMAN, Elena (ed.). Psychotherapy and Materialism. Essays by François Tosquelles and Jean Oury. Cultural Inquiry, 31. ICI Berlin Press, 2024.