Biotubes

Dreidimensionale Habitate für lebende Materialien

Was wäre, wenn lebende Materialien zu dreidimensionalen Produkten heranwachsen würden? Das Projekt Biotubes verfolgte einen grundlegend neuen Ansatz in der Formgebung lebender und gewachsener Materialien: Im 3D-Druck entstehen komplexe, dreidimensionale Habitate aus schlauchförmigem Hydrogel.

Lebende Materialien wie Leder aus Pilzmyzel, bakterielle Cellulose oder Algenbiofilme stehen für eine neue Generation als nachhaltig deklarierter Werkstoffe, die einen Paradigmenwechsel in der Materialgestaltung einleiten könnten. Entscheidend ist jedoch die Herstellungsweise, denn sie bestimmt, ob dieses Potenzial tatsächlich ausgeschöpft wird. Derzeit werden solche Materialien überwiegend zweidimensional kultiviert. Für die Anwendung in Produkten müssen sie daher aufwändig zugeschnitten, geformt und zusammengefügt werden – ressourcenintensive Schritte, zumal konventionelle Industriemaschinen kaum auf die Verarbeitung lebender Biomaterialien ausgelegt sind.

Statt herkömmliche Materialien zu substituieren, könnte ein dreidimensionaler Wachstums- und Formgebungsprozess gänzlich neue Möglichkeiten eröffnen. Die Projekte Habitat und Re/boot zeigten bereits das Potenzial dieser Kultivierungsweise. Jedoch wurden noch bestehende Hürden, wie die Notwendigkeit der ständigen Versorgung der Organismen, deutlich und folglich im Projekt Biotubes adressiert. 

Additive Formgebung für komplexe Habitate

Im Projekt Biotubes wurden der Formgebungsprozess und vor allem die Nährstoffversorgung der dreidimensionalen Habitate für Mikroorganismen wie Pilze, Algen und Bakterien entscheidend weitergedacht. Zu diesem Zweck wurde ein additives Formgebungsverfahren, das Rapid Liquid Bio Printing entwickelt, das die Herstellung permeabler und insbesondere hohler Röhrenstrukturen aus Hydrogelen ermöglicht. Anders als beim klassischen Pastendruck wird das Material in diesem Verfahren nicht an der Luft schichtweise auf eine Druckplatte aufgetragen, sondern direkt in eine Gelmatrix aus Alginat gespritzt. Die Gelmatrix stützt dabei die gedruckte Struktur und hält sie formstabil. Das ermöglicht den Druck komplexer, dreidimensionaler Geometrien, die mit herkömmlichen Methoden kaum zu realisieren wären – non-planar und ganz ohne Stützstrukturen. Bei Kontakt der Druckpaste mit dem Hydrogel beginnt eine chemische Reaktion, die zu dessen Polymerisation, einer Verhärtung des Materials, führt – und zwar ausschließlich an den Kontaktflächen. Nach wenigen Minuten kann die gedruckte Struktur aus dem Gelbett entnommen werden. Je länger mit der Entnahme gewartet wird und die Reaktion anhält, desto dicker wird die Wandung der Röhren. Beim anschließenden Autoklavieren, einer Sterilisation mit heißem Wasserdampf, wird die verbleibende Druckpaste komplett aus der Struktur herausgewaschen, sodass eine hohle Röhrenstruktur zurückbleibt. 

Diese permeablen Strukturen sind vergleichbar mit vaskulären Systemen, die eine präzise Steuerung der Nährstoffversorgung und der Sauerstoffzufuhr zur Zellbesiedlung ermöglichen. So können Mikroorganismen, die auf der Oberfläche der Röhrenstruktur aufgebracht werden, während des gesamten Wachstumsprozesses von innen mit passenden Flüssigmedien versorgt werden. Das löst nicht nur das Problem der Nährstoffversorgung, das bereits im Projekt Symbiotic Subjects erkannt wurde, sondern behebt auch die Limitierungen in der Herstellung von lebenden Materialien mit besonders dicken Materialstärken. Auf diese Weise lassen sich auf den Biotubes nicht nur die unterschiedlichsten Mikroorganismen zu dreidimensional gewachsenen Materialien heranzüchten, sondern auch deren Eigenschaften wie Festigkeit, Elastizität, Textur und Ästhetik beeinflussen und gestalten.

Vom lebenden Material zum Schuh

Anknüpfend an die Forschungsprojekte Habitat und Re/boot stellte das BioLab-Team den modularen Schuh als exemplarische Anwendung ins Zentrum des Biotubes-Projektes.

Die neuen Formgebungsmöglichkeiten des 3D-Gel-Drucks, die gezielte Auswahl von Mikroorganismen nach ihren Eigenschaften sowie die Steuerung der Wachstumsprozesse eröffnen die Chance, lebende Materialien mit einer großen Bandbreite an Materialitäten herzustellen. Durch das Zusammenstecken oder direkte Ineinanderdrucken mehrerer Schlauchsysteme kann in einem einzigen Objekt eine räumlich differenzierte Kultivierung stattfinden. Auf diese Weise entsteht eine Multimaterialität, die es ermöglicht, den unterschiedlichen funktionalen Anforderungen des Produkts gerecht zu werden. 

Im Fall des Schuhs verdeutlicht das Projekt das große Potenzial dieser Art der Gestaltung lebendiger Produkte: Die Außensohle könnte an besonders beanspruchten Stellen durch die Aktivität biomineralisierender Bakterien verstärkt werden, während an den Flexzonen weiche, flexible Myzelstrukturen für die nötige Beweglichkeit sorgen. Eine Einlegesohle würde aus einem weicheren, stoßdämpfenden, extra voluminös gezüchteten Pilzmyzel wachsen, das sich wie memory foam individuell an den Fuß anpasst. Für die optimale Federung beim Gehen würde eine atmungsaktive Zwischensohle mit einer elastischen, schaumähnlichen Struktur sorgen. Farbstoffproduzierende Mikroalgen würden das Obermaterial des Schuhs besiedeln und ästhetische Muster und Farbverläufe entstehen lassen. 

Die Arbeit mit lebenden Materialien verdeutlicht, dass Gestaltung künftig verstärkt interdisziplinär an der Schnittstelle von Biotechnologie, Materialforschung und Produktdesign stattfinden wird. Für Gestalter*innen ergibt sich damit die Möglichkeit, den Wandel hin zu zirkulären und ressourcenschonenden Produktionsweisen entscheidend mitzuprägen.

Biotubes im Dialog mit Wissenschaft und Öffentlichkeit

Neben der praktischen Arbeit an dem Projekt traten die BioLab-Mitarbeitenden nicht nur bei Ausstellungen, wie im Rahmen des Wissenschaftsfestivals Silbersalz im November 2024, in den Diskurs mit wissbegierigen Besucher*innen, sondern stießen insbesondere bei Präsentationen vor Fachpublikum auf das breite Interesse der Wissenschaftler*innen. Um externen Forschungsteams die Möglichkeit zu geben, eigene Experimente mit den Biotubes durchzuführen, entwickelten die Mitarbeitenden des BioLab ein Kit mit einfachen Teststrukturen, das sie bereits einigen Arbeitsgruppen zur Verfügung stellten.