ORTSBEGEGNUNG

ORTSBEGEGNUNG ist ein Langzeitprojekt, geleitet von Prof. Dr. Nike Bätzner aus dem Studiengang Kunstwissenschaften des Fachbereichs Kunst. Die Ergebnisse werden auf dem vom 1. bis 17. Juli 2022 stattfindenden Festival OSTEN in Bitterfeld-Wolfen präsentiert.

Im Kulturpalast, 2021, Foto: Friederike Ottilie Böhm

Seit Oktober 2020 beschäftigt sich eine Gruppe von Studierenden des Querschnittsgebiets Kunstwissenschaften der BURG mit den Potenzialen von Bitterfeld. Zum VEB Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld gehörte der Kulturpalast. Er wird verknüpft mit zwei Autorenkonferenzen zum „Bitterfelder Weg“ (1959 und 1964). Gemäß dem Slogan „Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ sollte den Werktätigen ein aktiver Zugang zu Kunst und Kultur ermöglicht werden. In ihren Recherchen untersuchen die Studierenden nicht nur die kulturelle Tätigkeit der Zirkel im Palast und die verschiedenen Wirklichkeiten der Arbeitswelt im Kombinat, sondern auch generell die Möglichkeiten einer Verschränkung von Kunst und Leben. In ihren künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen finden sie spezifische Ansatzpunkte, um das historisch und lebensweltlich Gegebene mit heutigen Fragestellungen zu unserer Verantwortlichkeit im Anthropozän zu verknüpfen. Gespräche mit Zeitzeug*innen sind dabei für die Erforschung des lokalen und geistigen Terrains eine wertvolle Quelle.

Orte

  • Kulturpalast Bitterfeld, Parcevalstraße 2a, 06749 Bitterfeld-Wolfen
  • Projektraum der BURG, Burgstraße 12-14, 06749 Bitterfeld-Wolfen
  • GRASNARBE, Parkstraße 1, 06749 Bitterfeld-Wolfen
  • Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, Areal E, 06749 Bitterfeld-Wolfen

 

Paula Barth: Wissen Sie etwas über die Umweltbibliothek in Bitterfeld?

In Bitterfeld wurde 1991 eine Umweltbibliothek gegründet, ein gemeinnütziger Verein, der sich zum Ziel setzte über die Umweltbelastung im Raum Bitterfeld aufzuklären. Heute gibt es sie nicht mehr, was passierte mit den Beständen und wer weiß heute noch etwas über diese Bibliothek?

Friederike Ottilie Böhm: Blumen erinnern – Requiem auf ein Braunkohlerevier
Die Geschichte des Chemieparks Bitterfeld, in dessen Mitte der Kulturpalast thront, ist eng mit den Braunkohlevorkommen in der Region verbunden. Und die ehemaligen Bergarbeiter waren mit dem Palast verbunden. Mehr als 60 Jahr nach dessen Eröffnung ist nicht nur der Ausstieg aus der Braunkohle besiegelt, auch die Arbeiter*innen sind aus dem Palast verschwunden. Übrig geblieben sind Dekorelemente der früheren Feste, die Kunstblumen, die auf eine Neubelebung warten; und auf dem Gelände die Ruderalpflanzen, die in den Bergbaufolgelandschaften blühen und auf die ehemalige Nutzung der Böden verweisen. Aus einer altarähnlichen Installation unter Verwendung der Kunstblumen aus dem Kulturpalast erklingt eine Soundcollage zum „Revier“.

Christina Brinkmann: Wer schreibt? Spuren des Bitterfelder Wegs
Die Veröffentlichungen der Zirkel Schreibender Arbeiter sind Hinterlassenschaften einer kulturellen Praxis, die mit dem Ende der DDR fast völlig verschwand. Die Frage aber, welche Möglichkeiten es gibt, Kultur wahrzunehmen und selbst kulturell tätig zu werden, nachdem ein ermüdender Arbeitstag hinter einem liegt, bleibt aktuell. Die Besucher*innen können Gedichte schreibender Arbeiter*innen in Form von Kassenbons an sich nehmen. Die Literatur findet damit auf einem zeitgenössischen und prekären Trägermaterial erneut Verbreitung.
Ein Beispiel von Elfriede Strauch, aus: Arbeitertheater, 1960: „Das ist beglückend neu / an unserem Theater, daß Arbeiter / sich selbst und ihr Leben spielen. / Vielleicht mag zaghaft noch ihr Spiel erscheinen. Nun ja - / sie rücken sich nicht gern ins Licht. / Bedenkt, wie vieles mußten sie sich / erst erringen!“

Linda Dalitz, Marlene Vollmar: Kontrakt: Herr Vu
Seit 1960 wurden Menschen aus verschiedenen „Bruderstaaten“ wie Vietnam und Mosambik zur Vertragsarbeit in die DDR und auch nach Bitterfeld geholt. Linda Dalitz und Marlene Vollmar haben Herrn Trien Vu befragt, der einst als „Kontraktarbeiter“ nach Bitterfeld kam und heute eine Gardinen & Nähstube in Halle betreibt. Herr Vu erzählt ausführlich von seinem Lebens- und Arbeitsalltag im Chemiedreieck und seinen Perspektiven nach 1989. 

Svenja Deking: Absender: Bitterfeld-Wolfen 
Landschaft – was ist das? Welche Charakteristika sind bezeichnend für eine Landschaft und welche Geschichten erzählt diese? Jede und jeder von uns entwirft seine eigene Wirklichkeit und Vorstellung von Landschaft. Svenja Deking schickte unbeschriebene Postkarten, verbunden mit Fragen nach dem Verständnis der sie umgebenden Landschaften, an Bewohner:innen der Stadt Bitterfeld-Wolfen und erhielt etwa 50 Antworten: persönliche Eindrücke, Geschichten, Zeichnungen mit Rückblicken und heutigen Perspektiven auf die Bitterfelder Topographie.

Philippa Jochim, Vinzenz Damm: Ausgangspunkt BTF
Vinzenz Damm und Philippa Jochim widmen sich in einer Lecture-Performance dem pilzlichen Leben in den Ruinen des einstmals real existierenden Sozialismus auf einer Brache im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen. Ausgehend von einer Recherche zu Pilzen als Sinnbild für mehr-als-menschliche Verflechtungen sowie von Versuchsanordnungen, um diese Beziehungen visuell und akustisch greifbar zu machen, entsteht ein exploratives Interview mit und in der inzwischen überwucherten Industriefläche. Die Künstler:innen laden ein, auf der Brache zusammenzukommen, zuzuhören und sich zu fragen: Lässt sich die mehr-als-menschliche Verflochtenheit, die das Bitterfelder Landschaftsbild formte, aus Perspektive der Pilze nachzeichnen? Welche Bedeutung ließe sich aus der veränderten Sichtweise für unser Zusammenleben mit nicht-menschlichen Lebewesen ableiten? Könnte dies der Ausgangspunkt einer ökologischen Utopie sein, die ein neues Bild der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt entwirft? Sind Pilze sozialistisch?

Julia Hosp, Pia Martz, Miriam Schmidt: (be)STIMMUNG des Ortes als Chor
Die Figur des Chores beschreibt eine Versammlung von Stimmen die vom Rande her, aus der Marginalität heraus sprechen und deren Ansprache dem Zentrum gilt. Im Sprechen einer Gemeinschaft wird der Leerstand im Zentrum zum Paradox. Der Bitterfelder Kulturpalast ist ein stillgelegter Erfahrungsort. 1954 eröffnet im Bestreben, Kunst und Kultur mit dem Alltag der Werktätigen des VEB Chemiekombinat Bitterfeld zu verbinden, wurde er bald Austragungsort eines neuen kulturpolitischen Programms der sich aufbauenden DDR: des Bitterfelder Wegs.
Im Zentrum von (be)STIMMUNG stehen die (im)materiellen Hinterlassenschaften: In einer chorischen Inszenierung soll der Kulturpalast als Erinnerungsort befragt werden. Welche Bedeutung trägt er für die Einwohner Bitterfelds? Wie wirkt das ehemalige Volkskunstschaffen in die heutige Bitterfelder Kulturarbeit hinein? Und wie stehen individuelles und kollektives Gedächtnis in einer ständigen Dynamik zueinander? 

Yana Kadykova: Verschollene Seiten – Hafen der Sehnsucht
Der Erfrischungsraum des Kulturpalasts ist nicht mehr zugänglich. In der Dötsch-Bar ist nun eine temporäre Plattform aufgebaut, die dazu einlädt, zur Diskussion und Erholung zusammenzukommen, zu lauschen und zu lesen. Leere Leinwände werden sich mit der Zeit mit Bildern und Anweisungen füllen. Die entstandenen Überlagerungen kreieren eine neue Erinnerung: an den Tag, die Stadt, den Kulturpalast. Zwischen Durstlöschern verbergen sich Bücher, die eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Von wem sie ge- und beschrieben sind, erfährt man beim Innehalten oder Eintauchen. Das Projekt entsteht in Kooperation mit der Stadtbibliothek Bitterfeld.
Aus Peter Hacks: Die Sorgen und die Macht, 1959-1962, UA 1960, Theater der Bergarbeiter Senftenberg „[...] wenn ihr euch / Den vorstelln wollt, dann richtet eure Augen / Auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil; / Denn wenig ähnlich ist dem Ziel der Weg. / Nehmt so viel Freuden, wie ihr Sorgen kennt, / Nehmt so viel Überfluss wie Mangel jetzt / Und malt euch also mit den grauen Tinten / Der Gegenwart der Zukunft buntes Bild."

Nicolas Reinhart: Filmfehler
Filmfehler ist ein künstlerisches Forschungsprojekt, das seinen Ursprung im Archiv der ehemaligen Filmfabrik Wolfen hat. Während des 20. Jahrhunderts wurden im heutigen Bitterfeld-Wolfen Filme und fotografische Materialien produziert und zunächst unter der Marke AGFA, später ORWO vertrieben. Mit dem Zerfall der DDR wurde die Produktion in den 1990er Jahren eingestellt. Produktionsbedingte Fehler und Mängel, wurden bei Kontrollen protokolliert und archiviert. Offiziellen Dokumenten zufolge diente diese Fehlersammlung dem Qualitätsmanagement; handschriftliche Notizen unterstreichen die Faszination der poetischen Qualitäten dieser Mängel. Die Recherche zum Projekt ist geprägt von grundlegenden Fragen zu fotografischen Archiven und ihrer Verwendung im Kontext zeitgenössischer Kunst. Der Fokus liegt auf der Untersuchung des visuellen Potenzials der Wolfener Filmfehler: Ausgehend von Original-Filmmaterial interpretieren analoge Handabzüge die historischen Produktionsfehler.

Miriam Schmidt: Bildnerische Perspektiven aus Bitterfeld
Aus der bildnerischen Zirkelarbeit in Bitterfeld um Zirkelleiter wie Walter Dötsch, Bernhard Franke und Wolfgang Petrovsky gingen unzählige Bilder hervor. Sie sind Speicher des kollektiven Gedächtnisses und ein wichtiger Teil der Kulturgeschichte der DDR, die geprägt ist von einer Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Phasen. Teils befinden sich die Bilder in Privatbesitz, teils als Bitterfelder Kunstsammlung im Archiv des Landes Sachsen Anhalt. Zu sehen sind sie immer noch äußerst selten – der Dialog mit ihnen ist somit nur sporadisch möglich. In dem Rechercheprojekt werden Bilder aus Bitterfeld mit ihrem Entstehungsort verknüpft und an der Dötsch-Bar des Kulturpalastes befragt. Im Vorfeld des Festivals geführte Gespräche mit Zeitzeug*innen stoßen diesen Dialog an und bieten einen Grundlage für die Interaktion mit den Bildern.

Alison Shea: Grasnarbe
Am südlichen Stadtrand wurde 1961 das Haftarbeitslager Bitterfeld errichtet. Nach der Wende wurde ein Großteil der Gefängnisbauten abgerissen, heute befindet sich dort nur noch eine Wiese. Dass in der Parkstraße in Bitterfeld fast dreißig Jahre lang hunderte Häftlinge untergebracht waren, die in den Braunkohlekombinaten und Chemiebetrieben der Region Zwangsarbeit verrichteten, kann man nicht ahnen, wenn man es nicht weiß. In einer an das Gefängnis erinnernden Kulisse finden Gesprächsformate mit dem Theologen und Historiker Justus Vesting, der zum Thema Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR forschte, und mit Holger Rossmann, der 1975 zu zwei Jahren Haft als politischer Gefangener in Bitterfeld verurteilt wurde, statt. Ein einzigartiges Zeugnis ist der Film, den Herr Rossmann nach der Wende in den bereits leerstehenden Gefängnistrakten drehte, noch bevor sie abgerissen wurden und Gras darüber wuchs.